Einsatzführung und Lagebewältigung bei Biogefahren-Ereignissen (ELBE)
Einordnung
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine zunehmende Verschärfung der nationalen und in-ternationalen Sicherheitslage hinsichtlich besonderer biologischer Gefahrenereignisse feststellbar. Nach SARS (2003) und MERS (2012) hat die COVID-19 Pandemie (2020) erneut gezeigt, dass ein immer tieferes Eindringen des Menschen in tierische Habitate den Ausbruch von Zoonosen begünstigen, während globalisierte Wirtschaftskreisläufe und Gesellschaften immer anfälliger gegenüber disruptiven Effekten werden. Auch die HUS-EHEC-Epidemie zeigte bereits einige einige Jahre zuvor (2011) die Komplexität der Ursachenforschung und Schaddensbegrenzung bei lebensmittelassoziierten Ausbruchsgeschehen im Kontext industrieller Fertigung und fragmentierter Lieferketten auf.
Entgegen dieser Erkenntnis werden sich biologische Gefahrenlagen jedoch deutlich häufiger (zunächst) als lokale Ereignisse darstellen. Das gilt gleichermaßen für akzidentielle Ereignisse, wie beispielsweise den Import von Infektionskrankheiten über Schiffs- und Flugzeugfrachten, aber auch für tatsächliche oder vermutete terroristische Anschlagsszenarien.
Nachdem deutsche Behörden im Bereich des Bio-Terrorismus in Folge der „Amerithrax“-Anschläge (2001) lange Zeit in erster Linie mit sog. „Pulverbriefen“ konfrontiert waren, verdeutlichen der vereitelte Rizin-Anschlag von Köln-Chorweiler (2018) sowie der mutmaßlich geplante Rizin- bzw. Cyanid-Anschlag von Castrop-Rauxel (2023) die Gefahren intentional herbeigeführter Ereignisse krimineller oder terroristischer Natur. Deren Eintrittswahrscheinlichkeit steigt auch vor dem Hintergrund der Verfügbarkeit von entsprechendem Wissen und seine gezielte Verbreitung durch terroristische Akteure, sowie der breiten Verfügbarkeit neuer Technologien, wie der CRISPR/Cas-„Genschere“.
Gleichzeitig verdeutlichen die Attentate auf Kim Jong-Nam mit VX in Malaysia (2017) und Sergej Skripal mit einem Stoff der Nowitschok-Gruppe in Großbritannien (2018), dass auch staatliche Akteure in einem hybriden Bedrohungsumfeld nicht vor dem extraterritorialen Einsatz von CBRN-Substanzen zu staatsterroristischen Zwecken zurückschrecken. Vor dem Hintergrund der geopolitischen Sicherheitslage muss davon ausgegangen werden, dass ein Einsatz von B-Agenzien militärischer Qualität durch (halb-)staatliche Akteure auch in Deutschland nicht ausgeschlossen werden kann. Auch können (vermeintlich) „natürlich“ oder akzidentiell entstandene Gefahrenlagen Spekulationen über einen intentionalen Ursprung auslösen oder tatsächlich zur Überdeckung eines solchen absichtlich fingiert werden.
Maßnahmen
Die Detektion, Eindämmung, Bewältigung und Aufklärung von besonderen biologischen Gefahrenereignissen erfordert die sektoren- und ebenenübergreifende Zusammenarbeit unterschiedlichster behördlicher Akteure aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst und der Gefah-renabwehr, von denen einige im täglichen Dienstgeschäft keinerlei Berührungspunkte miteinander aufweisen. Sie unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich Aufgaben, Befugnissen und Kompetenzprofilen, sondern verfügen ebenfalls über unterschiedliche Behörden- und Führungskulturen, Entscheidungsfindungsprozessen, Problemperzeption und Krisenfestigkeit. Die daraus resultierenden komplexen inter- und intraorganisationalen Führungs- und Ent-scheidungsstrukturen können im Lagefall negative Effekte auf die Einsatzbewältigung zeitigen, beispielsweise durch Zielkonflikte, Verantwortungsdiffusion und mangelndes Informationsmanagement. Insbesondere die mangelnde Koordination in biologischen Lagen wurden in der Vergangenheit wiederholt in der Fachöffentlichkeit kritisch reflektiert und in der medialen Berichterstattung zuweilen als „Behördenversagen“ tituliert.
Ziel des Projektes ist die Entwicklung und Verbesserung ablauf- und aufbauorganisatorischer Standards zur interbehördlichen Zusammenarbeit bei krisenhaften biologischen Gefahrenereignissen, insbesondere zwischen Akteuren des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und Ge-fahrenabwehrbehörden.
Die natürliche, versehentliche oder absichtliche Freisetzung von hochansteckenden Pathogenen stellt ein außergewöhnliches Biogefahrenereignis dar. Für behördliche Akteure können sich hieraus hochkomplexe und dynamische Einsatzlagen von langer Dauer in einem unsicheren Informationsumfeld entwickeln. Neben den klassischen “Blaulichtorganisationen” der Gefahrenabwehr ist der Beitrag des Öffentlichen Gesundheitsdienstes zur Gefahrenidentifizierung und -bewältigung in solchen Lagen essenziell. Sowohl eine solche horizontale Koordinierung als auch die Zusammenarbeit über verschiedene Verwaltungsebenen hinweg, hat sich in der Vergangenheit immer wieder als problematisch erwiesen. Bei der Zusammenstellung des Projektkonsortiums wurde von allen behördlichen Akteuren auf die Fähigkeitslücke im Bereich Biogefahren hingewiesen. Diese geht auf Bedarfe in den Fähigkeiten der involvierten Behörden zurück, die derzeit zunehmend ertüchtigt werden (Landeslabore, B-Kom-ponente der Analytical Task Force für Norddeutschland etc.), aber auch auf das Erfordernis, das Zusammenspiel behördlicher Akteure mit ihrem jeweiligen spezifischen gesetzlichen Auftrag in der Lagebewältigung zu verbessern.
In dem Projekt werden deutschlandweit erstmalig generische ablauf- und aufbauorganisatorische Standards entwickelt, die eine strukturierte Zusammenarbeit aller beteiligten Behörden bei Biogefahren-Ereignissen ermöglichen sollen und somit einen Beitrag zum effektiven be-hördlichen Krisenmanagement bei biologischen Gefahrenlagen leisten. Die Entwicklung dieser Standards erfolgt im Rahmen einer wissenschaftlich begleiteten, mehrstufigen Übungsserie mit steigender Komplexität. Endanwender der entwickelten konzeptionellen Lösungen sind daher nicht nur die unmittelbar an der Übungsserie beteiligten Akteure, sondern aufgrund des generischen Charakters der Empfehlungen potenziell sämtliche Gebietskörperschaften in Deutschland.
Besondere biologische Lagen involvieren ein großes Spektrum von Behörden, aber ggf. auch kommunalen Betrieben, wie Wasserwerke etc. Das Projekt ELBE führt diese Akteure auf allen Ebenen von lokal (Bezirksgesundheitsamt) bis zu Bundesbehörden (BBK, RKI, THW) in Übungsszenarien zusammen und verbessert damit bereits während der Projektlaufzeit die Kommunikation und das gegenseitige Institutionenverständnis. Die Möglichkeit der Einbindung der Polizei wird im Einzelfall von den gewählten Szenarien und den jeweiligen Kapazitäten abhängen. Der Projektverbund ist hierzu bereits im Kontakt mit Polizeibehörden von Land und Bund.
Das Projekt ELBE involviert auf Landes- und Kommunalebene Behörden der Freien und Hansestadt Hamburg; konzeptionell und operativ tätige Bundesbehörden sind als assoziierte Partner mit teils aktiven Rollen eingebunden, um die Ergebnisse auf andere Bundesländer über-tragbar zu machen.